Alisée de Tonnac, Seedstars
Autonomie als zukünftiges Arbeitsprinzip
Alisée de Tonnac, Mitgründerin von Seedstars, unterstützt Unternehmerinnen und Unternehmer aus Schwellenländern bei der Geschäftsentwicklung. Die Begegnungen mit diesen Geschäftsleuten sowie ihre eigene berufliche Laufbahn bei einem führenden Kosmetikunternehmen haben ihr Einblick in unterschiedlichste Systeme und Organisationen gewährt. Bei der Entwicklung der Struktur von Seedstars liessen sie und ihre Partner sich von Spotify, Loyco oder Patagonia inspirieren. Stolz berichtet sie von den Mitarbeitenden, Werten, Prinzipien und Prozessen, die Seedstars ausmachen.

Seedstars begleitet Unternehmen und Start-ups in Schwellenländern. Welche Managementansätze sind dir hier begegnet? Wo sind die Unterschiede zur Schweiz?
Die Schwellenländer sind stärker in traditionellen paternalistischen Strukturen verankert; daher stiessen unsere Vorstellungen, die auf Autonomie und Eigeninitiative setzen, teilweise auf wenig Verständnis. Für die junge Generation in der Schweiz, die sich zunehmend aus den traditionellen Mustern löst, scheint Geld nicht mehr den gleichen Stellenwert zu haben.
Kann die Schweiz etwas von den Managementstilen der Schwellenländer aufgreifen?
Wenn man die Bevölkerungszahlen betrachtet, haben die Unternehmerinnen und Unternehmer in den aufstrebenden Märkten Entwicklungsperspektiven, gegenüber denen sich die Ambitionen der Schweizer sehr bescheiden ausnehmen. Da es sich um junge und daher sehr dynamische Populationen handelt, können sie beispielsweise im Technologiebereich Schritte überspringen. So hat es in den meisten afrikanischen Ländern nie Festnetztelefonie, sondern direkt mobile Netze gegeben. Dass es im Bereich Leadership ähnliche Sprünge geben könnte, ist eine reizvolle Vorstellung.
Wie hat sich in Schweizer Unternehmen die Hierarchie in den letzten Jahren verändert?
Wir setzen auf flache Hierarchien. Da ich aus Unternehmen mit klassischen Strukturen komme, habe ich Zeit gebraucht, um mich aus dem hierarchischen Denken zu lösen. Doch die Entwicklung unserer spezifischen Unternehmensstruktur hatte für uns Seedstars-Gründerinnen und -Gründer immer Priorität. Wir haben lange nach inspirierenden Vorbildern gesucht und viel Zeit darauf verwendet, diese zu erforschen. Von Anfang an wollten wir komplett mobil arbeiten, und es zeigte sich, dass sich die angestrebte Autonomie mit einer dezentralen Organisation schnell erreichen liess. Ausserdem plädieren wir für eine «radikale Transparenz»; alle Meetings werden aufgezeichnet und jeder Mitarbeitende hat Zugang dazu.

Was macht für dich eine gute Führungspersönlichkeit aus? Und was bedeutet Personalentwicklung bei Seedstars?
Die Führungskräfte haben die Aufgabe, zu inspirieren und die Vision zu tragen. Manchmal verkörpern sie auch das Unternehmen. Ich selbst stand häufig in den Medien und der Öffentlichkeit im Vordergrund und repräsentierte die Marke Seedstars, aber innerhalb der Organisation bin ich eine Mitarbeiterin wie die anderen. Darauf achten wir, denn es tut dem Unternehmen gut, wenn es nicht immer nur mit einer einzelnen Person in Verbindung gebracht wird. Einer Führungspersönlichkeit ist bewusst, dass sie nur der bescheidene Teil eines weit grösseren Gefüges ist. Die Manager bei Seedstars sollen sich als Coaches verstehen und den Mitarbeitenden helfen, unabhängig ihre Mission zu verfolgen.
Aus aktuellem Anlass: Wie hat sich COVID-19 auf Seedstars ausgewirkt?
Es war für uns eine schwierige Zeit: Wir mussten uns von einem Unternehmensbereich trennen. Zugleich gab es ausgesprochen positive Auswirkungen, weil unsere Unternehmenswerte sich als sinnvoll erwiesen und nicht nur Worte waren. Die Mitarbeitenden haben diese Werte gelebt und sich weltweit auf COVID-19 eingestellt, ohne dass wir irgendwelche Anweisungen gegeben hätten. Auch unser Transparenzprinzip hat sich bewährt; wir kommunizierten ehrlich, dass unsere Entscheidungen auf sehr wenig Information und grosser Unsicherheit basierten. Das, was wir unsere «Mission» nennen, trifft seither auch auf stärkere Resonanz; mehr denn je sind Unternehmerinnen und Unternehmer auf Investitionen angewiesen, damit ihr Business wächst.
Ich hoffe, dass die Arbeitswelt der Zukunft einen anderen Gestaltungsspielraum bietet: freier, experimentierfreudiger und vor allem transparent.
Was denkst du, wie werden wir morgen arbeiten?
Ich denke, wir werden agiler, flexibler und variabler in der Zusammenarbeit. In der Umlaufbahn von Seedstars finden sich zahlreiche Talente und Strukturen, auf die wir zurückgreifen können. Manche haben zuvor bei uns gearbeitet und kooperieren nun projektbezogen mit uns. Ich hoffe, dass die Arbeitswelt der Zukunft einen anderen Gestaltungsspielraum bietet: freier, experimentierfreudiger und vor allem transparent. Das sind zumindest die Ziele von Seedstars.
Wie wünschst du dir die Arbeitswelt der Zukunft noch?
Die Menschlichkeit sollte wieder im Zentrum stehen. Ich vertraue darauf, dass wir mit Hilfe der Technologie die mechanischen Arbeiten Maschinen übertragen können und die Arbeitsplätze dadurch humaner werden. Davon gehe ich aus, weil die heutige Generation ebenso wie die kommende von etwas Grösserem inspiriert ist und sich für eine nachhaltige Welt einsetzt. Um diese Haltung und Ausrichtung zu fördern, wird Bildung eine entscheidende Rolle spielen.
TEXT: Alisée de Tonnac im Gespräch mit Mélanie Cantrel
Alisée ist eine der Geschäftsführerinnen von Seedstars. Sie und ihre Partner wollen Seedstars als flexible Organisation gestalten, in der die Mitarbeitenden sich entfalten können.
Bevor Alisée de Tonnac Mitgründerin und -leiterin von Seedstars wurde, reiste sie ein Jahr um die Welt, um Unternehmende aus Schwellenländern zu treffen. Mit der ersten Seedstars World Competition ging das Unternehmen 2013 an den Start. Heute ist es in mehr als 85 Ländern vertreten.
Alisée de Tonnac ist Absolventin der HEC Lausanne und der Università Bocconi in Italien. Sie startete ihre Karriere bei L’Oréal, bevor sie sich in das unternehmerische Abenteuer stürzte.